Das etwas andere Weihnachtsgedicht

1928 erholt sich Deutschland langsam von den Folgen des 1. Weltkrieges. In der sogenannten „Weimarer Republik“ regiert eine große Koalition, die NSDAP gewinnt besonders in Bayern an Einfluss. In dieser Zeit schreib Erich Kästner ein etwas anderes Weihnachtslied, voll Ironie und Resignation. Der Titel geht auf die – damals neue – chemische Reinigung zurück, die Kästner mit der besonders gründlichen Säuberung und Entschleierung von Sachverhalten verbindet. Es stimmt nachdenklich, dass seine Verse fast 100 Jahre später noch erschreckend gegenwärtig klingen.  

Weihnachtslied, chemisch gereinigt
(Erich Kästner, 1928)

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte Euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht soweit.

Doch ihr dürft nicht traurig werden.
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden.
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.

Lauft ein bisschen durch die Straßen!
Dort gibt’s Weihnachtsfest genug.
Christentum, vom Turm geblasen,
macht die kleinsten Kinder klug.
Kopf gut schütteln vor Gebrauch!
Ohne Christbaum geht es auch.

Tannengrün mit Osrambirnen †“
Lernt drauf pfeifen! Werdet stolz!
Reißt die Bretter von den Stirnen,
denn im Ofen fehlt’s an Holz!
Stille Nacht und heil’ge Nacht †“
Weint, wenn’s geht, nicht! Sondern lacht!

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld!
Morgen, Kinder, lernt fürs Leben!
Gott ist nicht allein dran schuld.
Gottes Güte reicht so weit …
Ach, du liebe Weihnachtszeit!

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