Ein Gespräch mit Elmar Stracke über das Alter und die kalendarische Warteschlange.
Früher oder später trifft es uns alle: Der erste Tag als Rentner:in. Aber ist der Geburtstag als Stichtag für den Rentenbeginn gerecht? Oder könnte man auch andere Kriterien für den Rentenbeginn auswählen? Dazu hat Elmar Stracke geforscht. wbv hat mit ihm über Gerechtigkeit, Gleichheit und Altersdiskrimierung im Zusammenhang mit dem Eintritt in die Rente gesprochen.
Herr Stracke, wer hat festgelegt, dass das kalendarische Alter die entscheidende Kennzahl für den Renteneintritt ist?
Elmar Stracke: Im Bismarckschen Rentensystem war das kalendarische Alter eine Behelfskonstruktion, weil man nicht die individuelle Gesundheit vermessen wollte. Stattdessen nahm man pauschal an, dass die Gesundheit und Produktivität ab einem bestimmten Alter nachlässt und damit die Möglichkeit, einen ausreichenden Lohn zu erwirtschaften. Diese Annahme wurde übrigens auch von den Arbeitgebern geteilt, die häufig pauschal ab 70 Jahren den Lohn senkten. Heute gibt es faktisch keine Korrelation des nominellen Renteneintrittsalters mit der Gesundheit – die allermeisten Menschen sind mit 67 noch gesund und fit. Es ist auch gesellschaftlich in Ordnung und sogar gewünscht, im Alter nicht mehr zu arbeiten, obwohl man gesund ist. Das wäre noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts für viele Menschen schwer verständlich gewesen. In Großbritannien hingegen hatte das Rentenalter von Anfang an auch die Funktion, den Berechtigtenkreis an das verfügbare Geld anzupassen. Wenn es zu teuer würde, würde man das Alter hinaufsetzen, dachte man. Dazu kam es aber nicht. Denn kalendarische Altersgrenzen sind schnell zu einem sozialen Anker geworden, den man nicht so leicht verändern kann. Übrigens sind sie auch keine Erfindung der Moderne. Auch im antiken Griechenland gab es bereits diverse Altersgrenzen wie 20 Jahre für die Volljährigkeit und 60 Jahre für das Ausscheiden aus dem aktiven Bürgerleben, das hieß vor allem die Übertragung des Eigentums an die Kinder und die Befreiung vom Wehrdienst.
Welche Argumente haben Sie in der Untersuchung für und gegen kalendarische Altersgrenzen gefunden?
Elmar Stracke: Weder sind wir für unser kalendarisches Alter verantwortlich, noch hat es wirklich Aussagekraft über uns. Das kalendarische Alter, zumal das Renteneintrittsalter, lässt weder auf Gesundheit noch auf Motivation oder Fähigkeiten schließen. Wenn wir nur auf dieser Basis beurteilt werden, ist das eine klassische Diskriminierung. Aber so klassisch ist sie dann doch nicht. Denn das kalendarische Alter ist dynamisch: Wer alt ist, war einmal jung. Alle, die alt genug werden, sind einmal dran. Es stellt also eine Art gesellschaftliche Warteschlange her. Diese finden viele Menschen als Verteilungsprinzip intuitiv sehr ansprechend, sofern sie sicher sein können, dass niemand eine Abkürzung nimmt. Hier wird aus dem größten Nachteil des kalendarischen Alters sein größter Vorteil: Alle altern gleich schnell in die gleiche Richtung, niemand kann es bremsen oder stoppen. Diese Gleichheit vor dem Kalender empfinden wir als besonders gerecht. Wenn niemand dafür verantwortlich ist, muss sich auch niemand dafür schämen. Außerdem gibt es vermutlich keine andere Eigenschaft von Menschen, auf die wir uns so gut einigen können: Finden Sie mal einen unstrittigen Indikator für Gesundheit, Fähigkeiten oder Intelligenz. Auch wenn Altersgrenzen willkürlich gelegt werden, ist das kalendarische Alter selbst frei von jedem Willkürverdacht. Diese Mischung aus Transparenz, Willkürfreiheit und Gleichheit verleiht der kalendarischen Warteschlange enorme Akzeptanz. Diese Warteschlange sollte in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht alles bestimmen. Aber man sollte sie allein schon dem gesellschaftlichen Frieden zuliebe nicht aus der Hand geben.
Ist Altersdiskriminierung mit anderen Formen der Diskriminierung, wie Rassismus oder Sexismus, vergleichbar?
Elmar Stracke: Weder für unser kalendarisches Alter noch für unsere Hautfarbe oder unser Geschlecht sind wir verantwortlich. Auch sagt keine der drei Eigenschaften etwas über unsere relevanten Eigenschaften aus. Deswegen wird manchmal behauptet, dass Altersdiskriminierung strukturell mit Rassismus und Sexismus vergleichbar sei und daher analoge politische Antworten erfordere. Das sehe ich nicht so. Das Alter ist dynamisch: Wer alt ist, war mal jung. Man wechselt sozusagen den Club im Laufe des Lebens. Wer sich als junger Mensch gegen Alte stellt, ist nicht nur gegen gealterte Angehörige, Freunde und Familie, sondern vor allem auch gegen sein eigenes späteres altes Ich. Diese Reflexivität gibt es bei Hautfarbe und Ge-schlecht nicht. Deren Clubmitgliedschaft ist lebenslang. Deswegen ist es verlockend, Menschen auf dieser Basis auf- und abwerten. Denn man läuft keine Gefahr, auf einmal auf der anderen Seite zu stehen. Da die Dinge beim Alter anders liegen, hat es nie zur Grundlage von vergleichbaren gesellschaftlichen Unterdrückungs- und Abwertungsstrukturen dienen können. Das heißt nicht, dass Altersdiskriminierung für den Einzelnen weniger schlimm wäre. Sie ist immer noch eine ernste Sache und eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Aber strukturell ist sie nicht vergleichbar mit Rassismus oder Sexismus und muss daher nicht mit den gleichen Geschützen bekämpft werden.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie? Und was könnte sich für das Rentensystem der Zukunft ergeben?
Elmar Stracke: Altersgrenzen haben derzeit schlechte Konjunktur. Eine unerwartete Allianz aus Menschenrechtlern, die gegen individuelle Diskriminierung kämpfen, und Marktliberalen, die Verträge ohne Rücksicht auf das kalendarische Alter knüpfen und kündigen wollen, kämpfen gegen politische und rechtliche Rückgriffe auf das Alter. Sie übersehen dabei – oder wollen übersehen –, dass das kalendarische Alter als Warteschlange des Lebens in einiger Hinsicht auch besonders fair und egalitär sein kann. Dadurch befriedet es Ressourcenkonflikte: Wir stellen gewisse Leistungen nicht allen zur Verfügung, aber jeder hat die begründete Aussicht, selbst einmal dran zu sein, ohne dass es von der Willkür anderer abhängt. Deswegen finden Menschen oft die Bezahlung nach Seniorität besser als nach Leistung, die man nie ganz objektiv messen kann. Außerdem verschafft das kalendarische Alter Planungssicherheit wie sonst kein Merkmal: Niemand weiß, wie gesund er oder sie in zwanzig Jahren ist. Aber alle wissen, wie alt sie sein werden, wenn sie dann noch leben. Alles in allem sind daher die Schutzfunktionen des kalendarischen Alters für das Individuum wie für das Zusammenleben nicht zu unterschätzen.
Noch eine allgemeine Frage zum Abschluss: Warum haben Sie sich für die Veröffentlichung der Arbeit im Open Access entschieden?
Elmar Stracke: Wenn man ganz beseelt von den eigenen Ambitionen mit der eigenen Forschung startet, träumt man, dass das schlussendliche Werk kurz hinter Harry Potter in der ewigen Bestsellerliste landet. Am Ende des Prozesses freut man sich von Herzen, wenn es wenigstens die eigenen Eltern lesen. Da ich aber glaube, dass diese Arbeit für Politik und Wissenschaft einen Mehrwert und eine Antwort auf eine sehr relevante Frage liefern kann, wollte ich sie möglichst vielen zugänglich machen. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus weiß ich, wie viel eher man in ein Open-Access-Buch schaut. Man muss sich bei der Recherche nicht mit institutionellen Logins oder Bezahlschranken herumschlagen oder gar das Buch von vornherein kaufen, sondern kann ganz unverfänglich blättern und sehen, ob das Werk für mich relevante Inhalte behandelt. Die Chance, dass man etwas findet, aufgreift und weiterentwickelt, ist viel höher. Wenn dadurch einige meiner Gedanken zum Thema etwa in alters- und rentenpolitische Debatten einfließen, würde ich mich sehr freuen.
Dr. Elmar Stracke (Jg. 1992) promovierte mit seiner Arbeit zur moralischen Zulässigkeit kalendarischer Altersgrenzen an der Universität Bayreuth. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag und arbeitete als Präsident von Polis180 e. V. an der Übersetzung junger Blickwinkel in die politische Entscheidungswelt. In seinem Podcast „Alter, was geht?" beleuchtet er geschichtliche, soziologische und philosophische Aspekte des Alters sowie das Zusammenleben von Alt und Jung.