LEO ändert die Blickrichtung: Die neue Literalitätsstudie zeigt, dass Menschen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz mehr Bildung und Mündigkeit brauchen, das geht weit über Lese- und Schreibunterricht hinaus. Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) ist Mit-Herausgeberin der Studie „LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität”, deren Ergebnisse jetzt komplett veröffentlicht werden. Sie war auch Mit-Initiatorin und Herausgeberin der Vorgängerstudie LEO 2010, die mit ihren Ergebnissen zur Literalisierung Erwachsener in Deutschland für Aufsehen sorgte.
wbv: Frau Professor Grotlüschen, bei LEO 2010 ging es um „funktionalen Analphabetismus”, jetzt nutzen Sie in der Studie den Begriff „Literalität”. Warum?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: Literalität ist ein lateinisches Wort und umfasst Lesen und Schreiben. Wer es einfacher will, kann auch Leben mit geringer Lesekompetenz sagen.
wbv: Warum nicht „funktionaler Analphabetismus”?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: Weil das immer falsch verstanden wird. Es wird skandalisiert. Aber es gibt viele Menschen, die mit geringer Literalität ganz gut leben. Und eben nicht in die Alphakurse kommen. Weil man kein sozial isolierter, arbeitsloser Sonderling ist, bloß weil man Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat.
wbv: Was hat sich zwischen LEO 2010 und LEO 2018 geändert?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: Bei LEO 2010 waren 14,5 % der 18- bis- 64-jährigen Bevölkerung (7,5 Mio.) gering literalisierte Erwachsene, bei LEO 2018 waren es 12,1 % (6,2 Mio.)
wbv: Also eine Million weniger. Waren die alle im Kurs?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: Nein, die VHS-Statistik kommt auf 40.000 Teilnehmende. Das ist wichtig und toll, aber es ist keine Million Menschen.
wbv: Was ist sonst passiert?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: Jemand der um 1950 geboren ist, war 2010 64 Jahre alt und wurde noch in der Erhebung erfasst. 2018 war er 72 und nicht mehr in der Erhebung. Das verändert die Zahlen. Die 18 bis 65-jährigen aus LEO 2010 hatten im Vergleich zu 2018 weniger Schulbildung und waren weniger oft in Arbeitsverhältnissen beschäftigt.
wbv: Was genau wurde in LEO 2018 getestet?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: LEO 2018 hat Literalität getestet und außerdem gefragt:
Wie oft machen Sie das oder das? Trauen Sie sich zu, das und das zu tun? Wie schwierig finden Sie es, das und das zu beurteilen? Die Ergebnisse zeigen, dass Leute mit geringer Literalität praktisch halbwegs zurechtkommen. Sie trauen sich teilweise auch zu, mit Politik, Finanzen, Gesundheit und Digitalem umzugehen. Aber kritisch beurteilen können sie es – nach ihrer eigenen Meinung – nicht mehr. Das ist nachvollziehbar. Dazu muss man nachgucken, und vor allem nachlesen.
wbv: Was sollte sich ändern, damit sich etwas ändert?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: Am schwierigsten war für die Befragten das Hinterfragen und Beurteilen. Sie brauchen also weniger funktionale Angebote und mehr Erwachsenenbildung, die kritikfähig macht. Ich wünsche mir, dass die Ergebnisse von LEO 2018 die Blickrichtung auf die Bedürfnisse ändern!