Berufsbildung ist sein Thema: Über 18 Jahre war Prof. Dr. Dieter Euler Inhaber des Lehrstuhls für Educational Management an der Universität St. Gallen. Der Schweizer Journalist Daniel Fleischmann hat mit ihm über Sonnen- und Schattenseiten der Berufsbildung in der Schweiz gesprochen, über die Euler auch in 60 Kolumnen der Schweizer Zeitschrift für Berufsbildung Folio zwischen 2012 und 2022 geschrieben hat. Jetzt sind die Kolumnen gesammelt unter dem Titel Hilfreiche Ungenauigkeiten bei wbv Publikation erschienen.
Dieter Euler, wie charakterisieren Sie die vergangene Dekade mit Blick auf die Berufsbildung in der Schweiz?
Die Berufsbildung hat sich angesichts der Ereignisse dieser Jahre – die Migrationswelle oder die Pandemie – erstaunlich robust gezeigt. Diese Stabilität verdankt sich unter anderem der guten Steuerung. Dank der grossen Arbeitsmarktnähe der Berufsbildung gelingt einer grossen Zahl von Lernenden der Eintritt in den Lohnerwerb. Und sie sind mobil: Etwa zwei Drittel verlässt kurz nach Lehrabschluss den Betrieb und knapp die Hälfte wechselt innerhalb von fünfeinhalb Jahren den Beruf.
Dann lernt man in einer Lehre mehr als nur den eigenen Beruf?
Die grosse Mobilität scheint das zu bestätigen. Offenbar ist die Berufsfeldbreite ein Merkmal der Schweizer Berufsbildung und nicht die spezifische Vorbereitung auf eine betriebliche Tätigkeit. Typisch dafür ist die kaufmännische Lehre (KV), die als «Allbranchenlehre» angelegt ist, während es in Deutschland knapp 40 verschiedene kaufmännische Grundbildungen gibt. Gültige Antworten auf Ihre Frage erhält man aber erst, wenn man die curriculare Ebene anschaut und untersucht, wie transferfähig die vermittelten Inhalte sind.
Sie erwähnten die Steuerung der Berufsbildung. Warum?
Im Berufsbildungsgesetz sind die grundsätzlichen Dinge der Berufsbildung zentral geregelt – auch die Frage, wofür dann die Kantone und die nachgeordneten Ebenen zuständig sind. In diese klaren Mechanismen sind auch die Lernorte einbezogen. In Deutschland sind die Zuständigkeiten völlig zersplittert, mit der Berufsbildung beschäftigen sich unzählige Ministerien auf Bundes- und Landesebene, zahlreiche Gremien, die Sozialpartner und nicht zuletzt die Kammern.
Das waren jetzt lauter gute Nachrichten für die Schweiz.
Aber sie haben ihren Preis. Die Stärke der Schweizer Berufsbildung verdankt sich in vielen Kantonen einer rigiden Auslese der Lernenden in Richtung Gymnasium; so führt man der Berufsbildung relativ viele schulisch begabte Lernende zu. Das mag ökonomisch sinnvoll sein, und vielleicht trägt es auch zur hohen Qualität beruflicher Grundbildungen bei. Aber es geschieht auf Kosten der Chancengerechtigkeit. Wir wissen, dass die Selektion in die Leistungszüge der Sekundarstufe I und die folgende Rekrutierungslogik herkunftsbedingte Leistungsunterschiede verstärkt, anstatt sie zu glätten. Die soziale Herkunft wirkt – unabhängig von den schulischen Leistungen – erheblich auf den Bildungserfolg der Jugendlichen ein.
Wo sehen Sie Entwicklungspotenziale für die Berufsbildung?
Ein Thema ist die Unterscheidung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung, die angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen nicht mehr tragfähig ist. Berufliche Kompetenzen veralten immer schneller, immer dringender ist die Forderung, den Unterricht so zu gestalten, dass die Jugendlichen selbstgesteuert lernen, exemplarisch lernen – also Dinge zu tun, die man traditionell der Allgemeinbildung zuschreibt. Umgekehrt gibt es in der Allgemeinbildung viele Bereiche, die berufsbildend sind – wirtschaftliche oder gesellschaftliche Themen etwa. So ist es zumindest fragwürdig, Fachmittelschulen als allgemeinbildend zu bezeichnen. Sie führen zwar zu einem Hochschulstudium, aber sie sind zugleich berufsvorbereitend.
In Ihren Kolumnen sprechen Sie immer wieder auch die Digitalisierung an. Vieles seien Versprecher statt Versprechungen, schreiben Sie. Können Sie das ausführen?
Die Diskussion zur Digitalisierung wurde sehr lange auf Ebene Infrastruktur und Ausstattung der Schulen mit WLAN, Laptops und dergleichen geführt. Doch dies sind Themen an der Oberfläche des Lernens. Die Kernfrage lautet doch, wie man die digitalen Medien so nutzen kann, dass sie einen didaktischen Mehrwert haben. Digitalisierung bietet Chancen für den Unterricht, ohne Zweifel. Aber es genügt nicht, den Hellraumprojektor durch eine Power-Point-Präsentation zu ersetzen. Digitalisierung muss verbunden sein mit veränderten Unterrichtskonzepten, mit Sequenzen des Selbstlernens, aber auch mit neuen Formen des Dialogs zwischen Lehrkraft und Schülern und unter den Schülern selber. Es gab in der Geschichte der Pädagogik viele Revolutionsversprechungen, die sich schon bald als Versprecher erwiesen – die Sprachlabore, das Computer Based Learning, das E-Learning.
Die Zahl der Lehrabbrüche verharrt seit vielen Jahren auf gut 20 Prozent. Was ist hier los?
80 Prozent dieser Lehrabbrüche führen direkt in ein neues Vertragsverhältnis. Das relativiert das Bild, und ein Blick auf die Bachelorstudiengänge zeigt ähnliche Abbruchquoten. Trotzdem muss man hinschauen, denn in einzelnen Berufen beträgt die Quote 40 Prozent. Und es zeigt sich, dass häufig Jugendliche mit Migrationshintergrund betroffen sind. Auch 4 Prozent Dropout sind zuviel, das sind genau die Jugendlichen, die irgendwann Probleme bekommen.
Das kommentieren Sie erstaunlich wohlwollend. Machen die Betriebe nichts falsch?
Zu Lehrvertragsauflösungen führen Gründe in Betrieb und Schule, aber auch Gründe, die bei den Jugendlichen liegen. Das sind komplexe kausale Ketten. In den Betrieben ist oft gar nicht die Ausbildung schlecht, sondern das Beziehungsklima. Noch das beste Bildungskonzept ist machtlos, wenn man sich schlecht versteht. Und wenn das Klima gut ist, darf die Arbeit auch mal langweilig sein. Erziehung ist eng mit Beziehung verbunden!
Sie haben während über zehn Jahren teils kritische Kolumnen zur Schweizer Berufsbildung verfasst. Wie wurde damit umgegangen?
Die Schweizer Berufsbildung ist sehr selbstbewusst in der Selbstdarstellung, zum Teil zurecht. Kritik wird vorsichtig und in Form von Anregungen formuliert, etwa in den Trendberichten der EHB. Ich finde das nicht schlecht. Was ich aber auch feststelle sind «defensive routines», wenn kritische Hinweise kommen. Statt dass ein Diskurs beginnt, erfolgen Rechtfertigungen oder es wird geschwiegen. Besser wäre manchmal der offene Blick des Forschers, nicht der Reflex der Verteidigung.
Der Beitrag ist ein Auszug aus einem Interview mit Dieter Euler, dass der Schweizer Journalist Daniel Fleischmann geführt hat: „Erfolge und Probleme der Berufsbildung in der Schweiz: Dieter Eulers Kolumnen sind nun endlich als Buch erhältlich.“
In: Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis. SGAB, Schweizerische Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung.
Dieter Eulers Buch Hilfreiche Ungenauigkeiten. Impulse für die Berufsbildung ist bei wbv.de sowie im Buchhandel erhältlich. Der Band verbindet mehr als 60 Kolumnen, die in der Schweizer Zeitschrift für Berufsbildung Folio zwischen 2012 und 2022 erschienen sind. Die Themen adressieren auf eine ganz besondere Art ein breites Spektrum aktueller Fragen der Berufsbildung. Im Sinne der Brecht'schen Maxime „Bekanntes fremdmachen und Fremdes bekanntmachen" werden vermeintliche Erkenntnisse „fragwürdig" gemacht und Fragen in die Erkundung von möglichem Handeln überführt. Das inspirierende Buch regt zum Nach- und Vor-Denken an – Wissenschaftler:innen ebenso wie Praktiker:innen.