Interview
Warum ist Filmbildung überhaupt ein Thema für die Schule?
Matthis Kepser: Das könnte man sich wirklich fragen, denn lange Zeit spielte Filmbildung in der Schule so gut wie keine Rolle. Dabei ist der Film ein übrigens schon in die Jahre gekommenes kulturelles Handlungsfeld, das unsere Sicht auf die Realität wesentlich prägt. Filme wirken sich auf die Individuation des Menschen, seine Entwicklung und Persönlichkeit nachhaltig aus, hinterlassen gewichtige Spuren in der sozialen Kommunikation und bilden Kulturen, Gesellschaften, Zeiten und Lebensräume ab bzw. bringen sie uns näher. Filme sind also wichtige Verständigungsobjekte ihrer Zeit, wie im Übrigen auch die Literatur. Deshalb sollte der Film eigentlich im Deutschunterricht eine gleichwertige Bedeutung wie die Literatur haben.
Ingo Kammerer: Diese Gleichgewichtung ist in der Schule zwar noch nicht zu erkennen, aber ein Umdenken in Sachen Film ist auch nicht zu übersehen. Inzwischen sind Filme als Unterrichtsge-genstand in allen Bildungsplänen platziert und eigentlich in jeder Jahrgangsstufe zu behandeln. Das ist nicht zuletzt auf einige Publikationen und den Einfluss von Filmdidaktiker:innen innerhalb der letzten 20 Jahre zurückzuführen.
Welche Entwicklung wird das Thema Film in den nächsten Jahren im Unterricht nehmen?
Ingo Kammerer: Der Film ist ja, obwohl schon relativ alt, noch immer ein wesentliches Schlüsselmedium der Weltverständigung und des -verstehens. Neue digitale Medien, z. B. Internetportale, PC-Spiele wie auch klassische Printmedien in ihrer App-Gestalt, greifen auf diese audiovisuelle Form des Berichtens, Kommentierens und Erzählens beinahe zwangsläufig zurück. Das "Gesamtkunstwerk" Film, in dem alle Künste eine Heimat finden können, ist noch immer wirkungsvoll genug, sodass man ungern darauf verzichten will und in manchen Fällen auch nicht darauf verzichten kann. Das heißt aber auch, dass bei Behandlung solcher Hybridformen im Unterricht von einer grundlegenden Filmbildung ausgegangen werden sollte.
Matthis Kepser: TikTok, YouTube und Instagram prägen die jugendliche Gegenwart mit filmischer Kurz-und Langware, was nicht im vorbewussten Privaten stehen bleiben darf. Interessanterweise wird hier übrigens überwiegend mit dokumentarischem Material oder nonfiktionalen Filmen gearbeitet, was diesem doch weitgehend vernachlässigten Genre eine wichtige Funktion in der Schule sichern könnte. Unser Eröffnungsband von 2014 "Dokumentarfilm im Deutschunterricht" war im Grunde die erste deutschdidaktische Auseinandersetzung mit diesem Genre, das immerhin den Ursprung des Films verkörpert. Und die anstehende zweite Auflage des Dokumentarfilmbands kommt nun offensichtlich zur rechten Zeit.
Ingo Kammerer: Das heißt natürlich auch, dass der Begriff "Film" in unserem Reihentitel weit über das hinausgeht, was man herkömmlich im schulischen Sektor darunter verstanden hat. Nicht nur der Spiel- und vielleicht der Dokumentarfilm können hier diskutiert werden, sondern auch die daraus entstandenen neuen Formate und Hybridformen der Gegenwart. Film ist der Oberbegriff für ein breites oder weites Feld an audiovisuellen Handlungsoptionen. Und da inzwischen beinahe jeder Mensch eine Filmkamera qua Smartphone bei sich trägt, sind die ästhetischen Entwicklungen filmischer Erzeugnisse heute noch gar nicht abzusehen. Sicher ist nur: Der Film selbst ist noch lange nicht "auserzählt".
Hat sich denn der Film durch den Einfluss der sozialen Medien verändert?
Matthis Kepser: Sicherlich. In dramaturgischer Hinsicht tauchen vermehrt soziale Medien in Spiel- und Dokumentarfilmen auf. Das ist natürlich kein Wunder. Jedes neue Medium findet seinen Niederschlag in Filmen. Das Telefon wird durch das Handy, dann das Smartphone ersetzt, der PC erhält mit seinem gesellschaftlichen Auftauchen eine filmische Bedeutung, auch der Shitstorm findet nicht mehr (nur) an Stammtischen statt. Veränderte Bedingungen des Zusammenlebens werden filmisch reproduziert. Aber auch Reaktionen der Zuschauer:innen zu z. B. einer Serienstaffel, die man heute auch von Produzent:innenseite aus aufmerksam im Netz verfolgt, finden ihren Niederschlag in Folgeproduktionen, was bei Serien durchaus natürlich ist und heute eben auch einfacher publiziert werden kann als, sagen wir, vor 20 Jahren. Es ist schon so: Die verschiedenen Filmgenres und -formate werden heutzutage von vielen mitge-schrieben.
Welche Rolle spielen denn Genrebezüge bei der Filmbildung im Unterricht?
Ingo Kammerer: Genres als die großen Geschichtenmarker prägen das System Film in besonderer Weise. Sie geben Orientierung, wecken Erwartungen, haben eine eigene Vorgeschichte, aus der ausgiebig zitiert wird. Insofern sind sie bei der Analyse von Film nicht nur hilfreich, sondern kaum zu umgehen. Das Interessante an Genres ist ja das Kommunikationsgeflecht zwischen Autor, Film und Publikum. Zuschauer:innen gehen in Genrefilme, weil sie etwas Bekanntes neu erleben wollen, Autoren berücksichtigen das und vergessen dennoch nicht, Überraschungen zu setzen, Neuerungen zu platzieren. Eine im Regelfall gelingende Kommunikation nimmt an Fahrt auf. Davon kann der andere Kommunikationsraum, der Unterricht, nur profitieren.
Matthis Kepser: Außerdem sind Genrebezüge beinahe in jedem Film festzustellen, weshalb eine Grundbildung in Sachen Genre keine Nebensache sein kann. Filmbildung ist in gewisser Weise auch Genrebildung – Genres prägten dieses Medium von Beginn an und tun es noch heute unverändert.
Allerdings greifen gerade Deutschlehrer:innen gerne auf eine andere Filmform, nämlich die Literaturverfilmung zurück. Ist das gerechtfertigt?
Matthis Kepser: Unter Umständen ist das ja auch ein Genre, ein spezielles zwar, aber doch eine Filmgruppe, die so betrachtet werden kann. Andererseits ist die Literaturverfilmung aber schon deshalb für den Deutschunterricht wichtig, da sie den Lehrer:innen zumindest im ersten Teilbereich des Wortes ein vertrautes Medium zur Seite stellt. Da kennt man sich aus und hat einen ersten Zugang.
Ingo Kammerer: Das ist natürlich Chance und Problem zugleich, da die Literaturverfilmung gerne auf die großen literarischen Werke zurückgreift und, weil das Buch bereits auf dem Markt bzw. im kulturellen Gedächtnis überzeugen konnte, nicht so sehr auf filmsprachlichen Wagemut setzt. Der unsägliche Begriff der "Werktreue", der bei genauer Betrachtung gar nicht möglich ist, ist hier ein Hemmschuh, die große Fangemeinde des Ursprungstextes, die freilich im Film ihre eigene Lesereise wiederentdecken möchte, der andere. Allerdings sind aus dieser komplizierten Partnerschaft auch sehr gelungene Filme entstanden. Und gerade der Deutschunterricht verspricht literarische Bildung, die letztlich auch mit Filmen zu erreichen ist.
Matthis Kepser: Literaturverfilmungen als Reinszenierungen literarischer Lektüre mit filmischen Mitteln sind auch in ihrem Vergleichsangebot von großem Interesse für einen Unterricht, der intermediale Austauschprozesse untersuchen und beurteilen will. Der Sprung über die Mediengrenze verdeutlicht viel über die beteiligten Medien, ihre Möglichkeiten und Wirkungsgrenzen. Über neue Angebote in diesem spannenden Feld würden wir uns freuen.
Werden die neuen digitalen Möglichkeiten wie z.B. Virtual-Reality-Phänomene den klassischen Film und demnach auch die Filmdidaktik verändern?
Ingo Kammerer: Ob ABBA-Hologramme und gewichtige Brillenkörper das erreichen können, würde ich bezweifeln. Gleichwohl können wir nicht in die Zukunft schauen. Möglich ist viel. Auch das 3-D-Konzept erlebte in den Nuller-Jahren eine Wiedergeburt, freilich nur für kurze Zeit.
Matthis Kepser: Im Filmunterricht der Zukunft werden sicherlich immer wieder neue Phänomene und diesbezügliche Begrifflichkeiten zu berücksichtigen sein – eine grundsätzliche neue Filmdidaktik muss dafür aber nicht geschrieben werden. Vielleicht bringen hier eher die noch jungen Game-Studies Änderungen in die Filmdidaktik hinein bzw. neue Konzepte zum interaktiven Film, der eben doch anders erzählt als ein klassischer Spielfilm.
Und vielleicht noch eine persönliche Frage:
Was ist ihr Lieblings-Unterrichts-Film? Oder was zeichnet einen guten Unterrichtsfilm für Sie aus?
Matthis Kepser: Für den Unterricht ist letztlich wesentlich, dass man viel über filmisches Gestalten und Filmkultur lernen kann. Hierfür ist meiner Meinung noch immer LOLA RENNT von Tom Tykwer ein gutes Anschauungsobjekt. Der rasante Text bietet eine noch immer ansehnliche Reise durch die Filmgeschichte an, ist spannend erzählt und gibt zudem noch einige Computerspielanleihen zum Besten. Das alles verspricht einen hohen Ertrag auf vielen Filmbildungsfeldern.
Ingo Kammerer: Auch die Story des Films ist freilich nicht zu unterschätzen. Wenn man dann das selbstreflexive Spiel mit Medium und Zuschauer als interessanten Verweis nutzen möchte, scheint mir Hitchcocks PSYCHO noch immer einer Thematisierung wert. Zugegeben, ein Klassiker. Aber was für einer. Denn der Brite spielt in diesem Film meisterhaft mit der nach ungefähr der Hälfte des Films fehlenden Orientierung des Publikums. In der Art, dass sich der kleine Thriller des Anfangs in einen Horrorfilm wandelt, um sich schließlich als Komödie zu erkennen zu geben. Das erkennt man aber erst bei der zweiten Ansicht des Films. Und dieser zweite Blick ist auch in der Schule immer der Moment der Analyse oder: der Filmbildung.